Wir haben nachgerechnet und verglichen. Warum die neue „Satzung über die Benutzung von Unterkünften des Sozialamts für Flüchtlinge“ in Stuttgart ungerecht, integrationshemmend und diskriminierend ist.
Muss die Stadt kostendeckende Gebühren verlangen?
Die Stadtverwaltung begründet die neue Gebührensatzung immer wieder mit der Verpflichtung, ihre Gebühren kostendecken zu kalkulieren. In einer Podiumsdiskussion stellte Sozialbürgermeister Werner Wölfle den angestrebten Kostendeckungsgrad von 89,1 Prozent als eigentlich zu gering und daher sehr sozial berechnet dar.
Hier gibt’s den Satzungsentwurf komplett zum Download
Eine Verpflichtung zur Kostendeckung existiert nicht. Im Gegenteil dürfen die Einnahmen nicht über den Kosten liegen. Im Kommunalabgabengesetz (KAG) steht unter „§13 Gebührenerhebung“: Die Gemeinden und Landkreise können für die Benutzung ihrer öffentlichen Einrichtungen Benutzungsgebühren erheben. Technisch getrennte Anlagen, die der Erfüllung derselben Aufgabe dienen, bilden eine Einrichtung, bei der Gebühren nach einheitlichen Sätzen erhoben werden, sofern durch die Satzung nichts anderes bestimmt ist; (…).
Und unter „§14 Gebührenbemessung“ steht: (1) Die Gebühren dürfen höchstens so bemessen werden, dass die nach betriebswirtschaftlichen Grundsätzen insgesamt ansatzfähigen Kosten (Gesamtkosten) der Einrichtung gedeckt werden, wobei die Gebühren in Abhängigkeit von Art und Umfang der Benutzung progressiv gestaltet werden können.
Im Klartext: Öffentliche Einrichtungen müssen NICHT kostendeckend arbeiten und entsprechend hohe Gebühren verlangen. Dafür sprechen auch andere soziale und öffentliche Angebote der Stadt Stuttgart und deren Kostendeckungsgrade laut Haushaltsentwurf 2018:
Haushaltsposten: Kostendeckungsgrad
Sachkosten in öffentlichen Schulen: 47%
Kosten für verlässliche Grundschule: 14,78%
Städtische Musikschule: 35,6%
Stadtbibliothek: 5,3% (Zuschuss pro Leihvorgang: 2,40 €)
Betriebsrestaurant der Stadt Stuttgart: 46,8% (Zuschuss pro Mittagessen: 8,68 €)
Obstbauberatung: 25%
Flüchtlingsunterbringung (neue Gebührensatzung): 89,1%
Einer der wenigen Haushaltsposten mit einer ähnlich hohen Kostendeckung wie die Flüchtlingsunterbringung sind die Gebühren und Kosten bei Erdbestattungen.
Niemand möchte öffentliche Aufgaben und Ausgaben anzweifeln. Doch die Gebühren für das Mittagessen städtischer Bediensteter, die Musikausbildung der Jugend oder die Lehrmittel und Betreuung an öffentlichen Schulen werden offensichtlich nicht in erster Linie anhand ihrer Kostendeckung ermittelt, sondern über zumutbare Belastungen für die Nutzer des jeweiligen Angebots.
Wie hoch ist die Kostendeckung wirklich?
Die Stadtverwaltung errechnet in der neuen Satzung eine Kostendeckung von 89,1 % und plant im Haushaltsentwurf für 2018 mit einer Kostendeckung von 86%. Mit den Planzahlen im Haushalt liegt die Deckungsrate in der Realität sogar noch höher.
Die Erhebung der Gebühren auf eine potentiell bewohnte Fläche von 4,5 oder 7 Quadratmetern (qm) ist allerdings falsch. Dies zeigt schon die Kostenberechnung der Stadtverwaltung. Diese weist für die reinen Unterkunftskosten (kalt) nicht einmal ein Drittel der Gesamtkosten aus: 31,37 Euro von 97,23 pro qm.
Betriebskosten machen weitere 19,33 Euro pro qm aus, diese werden in der Wohn-Nutzung in der Regel nur zum Teil auf Flächen umgelegt, ansonsten aber auf die Belegung oder den tatsächlichen Verbrauch. Alle weiteren Kosten sind nach unserem Ermessen unabhängig von einer bewohnten Fläche und steigen nicht proportional, wenn sich die Fläche pro Bewohner in den Unterkünften nach den gesetzlichen Vorgaben wieder auf 7 qm erhöht.
Zieht man typische (hier besonders hoch angesetzte) Energie- und Verbrauchskosten pro qm in Wohnhäusern heran, dann kann man davon ausgehen, dass nur ein Bruchteil der Betriebskosten – inklusive Gemeinschaftsflächen vielleicht 2 bis 3 Euro pro qm – tatsächlich auf die anteilige Wohnfläche jedes Bewohners umgelegt werden können. Die übrigen Kosten – zirka 60 von 97,23 Euro pro qm – lassen sich beim besten Willen nicht von 4,5 auf 7 qm hochrechnen. Es sei denn, die Verwaltung wie auch die Sozialbetreuung, Heimleitungen oder Sicherheitsdienste stocken z.B. die Zahl ihrer Stellen um 55,55% auf, jeder einzelne Bewohner verbraucht entsprechend mehr Wasser und Strom und produziert massiv mehr Müll, sobald die „größeren“ Unterkünfte gelten. Auch die Zahl der Waschmaschinen oder Möbel werden nicht pro Fläche berechnet, sondern nach Belegungszahl.
Der Fehler und die daraus resultierende viel zu hohe Kalkulation der Gebühren zeigen sich, wenn man die Planzahlen aus der Satzung in die Werte des Haushaltsentwurf 2018 einbaut:
- Nach der neuen Gebührensatzung und den darin genannten Plangrößen vereinnahmt die Stadt Stuttgart 2018 rund 42,3 Mio. Euro. Das ist deutlich mehr, als im Haushalt eingestellt wurde (39,73 Mio).[1] Der Deckungsbeitrag beträgt 92,55% statt der von der Stadt angegebenen 89,1 % bzw der im Haushaltsentwurf 2018/19 (siehe Seite 294/295) geplanten 86 %.
- Rechnet man alle Unterbringungskosten im Haushaltsentwurf proportional auf die vorgesehenen 7 qm pro Person hoch und nimmt im Gegenzug flächendeckend die entsprechend höheren Gebühren an[2], dann entsteht eine Überdeckung von 104,34 %.
- In Wahrheit steigen die Kosten aber nicht proportional, sondern weniger stark als der Flächenanstieg der einzelnen Privatflächen. Damit wächst die Überdeckung weiter an – schätzungsweise auf deutlich über 110 %. Dies widerspricht dem Kommunalabgabengesetz.
Die neue Gebührensatzung ist nicht verhältnismäßig:
Die Gebühren werden ausschließlich anhand der Kosten ermittelt, nicht auf Basis einer vergleichbaren, alternativen Leistung (vgl. Kommunalabgabengesetz) wie etwa einer Sozialwohnung oder einem vergleichbarem Wohnraum auf dem freien Markt:
- Der Gleichheitsgrundsatz wird verletzt: Die Nutzungsgebühr (31,37 €/ m² kalt, 86,63 €/m² mit Nebenkosten) muss an Mietobergrenze (8,40 bis 10 €/m² kalt) orientiert sein.
- Das Äquivalenzprinzip wird verletzt: Hohe Kosten (86,63 €/m²) stehen minimalem Wohnkomfort gegenüber (4,5 bis 7 m² Wohnraum – das bedeutet z.B. ein Bett in einem 14 m²-Dreibettzimmer, das mit zwei anderen Personen geteilt werden muss – Gemeinschaftsküche und Gemeinschaftsbad),
- Die Gebühr ist ungerecht gegenüber Familien. Abgesehen von der „sozialen Komponente“ (Deckelung bei zwei Kindern) werden Paare und Eltern mit minderjährige Kindern mit den selben Gebühren pro Kopf belastet wie allein lebende Erwachsene. Dies entspricht aber z.B. in der Hausleitung, der Sozialberatung und auch in der Verwaltung nicht den wahren Verhältnissen und verzerrt die Vergleichbarkeit mit dem realen Wohnungsmarkt weiter.
- Die „Soziale Komponente“ für Selbstzahler wirkt gerade für Familien negativ, die bereits ein eigenes Einkommen haben. Sie müssen trotz der Ermäßigung (228,15€ pro Person) vielfach mehr bezahlen als in einer Sozialwohnung (z.B. 912,60€ für vier Personen). Eine Sozialwohnung finden sie aber aus bekannten Gründen in Stuttgart nicht. Da das Einkommen dieser Gruppe dann nicht für ihren Lebensunterhalt und die Unterbringung ausreicht, landen sie wieder im ALG2-Bezug, ohne dass sie dafür im Gegenzug adäquaten Wohnraum haben.
- Der Rückfall in den ALG2-Bezug kann ausländerrechtliche Folgen haben – etwa beim Familiennachzug oder bei der Frage, ob erfolgreich integrierte Familien etwa bei Härtefallanträgen in Deutschland bleiben dürfen oder nicht.
Sozial gedachte Alternative in Freiburg
Wir sehen durchaus die Notwendigkeit, die Kosten für die Flüchtlingsunterbringung auf eine solide Basis zu stellen und dabei auch z.B. vorhandene Bundesmittel für die Unterbringung abzurufen. Allerdings gehört dazu eben nicht nur eine Betrachtung der Kostenseite, sondern auch der Verhältnismäßigkeit im Vergleich etwa zu alternativen Unterbringungen (Laut KAG: Äquivalenzprinzip).
Als Beispiel sei hier der Entwurf der entsprechenden Gebührensatzung aus Freiburg genannt (Hier zum Download), der von Anfang an einen anderen Ansatz verfolgt und nicht in jedem Fall zu niedereren, wohl aber zu besser zum jeweiligen Angebot passenden Gebühren kommt. Hier die Grundzüge des Entwurfs:
- Differenzierung der Gebühren nicht nach Unterkunftstyp (4,5 oder 7qm), sondern zwischen Einzelzimmer, Mehrbettzimmer und Wohnungen
- Berechnung auf Basis der Kosten gegenüber dem „Wohnwert“, z.B. Einzelzimmer doppelt so hoch wie Vierbett-Zimmer
- Verringerte Gebühr für Minderjährige (1/6 der Gebühr Erwachsener im Einzelzimmer)
- Gesonderte Berechnung zusätzlicher Zimmer (z.B. eigene Küche für Familie im Wohnheim).
- Berechnung auf Basis einer Kostendeckung von 40, 50 oder 60% (laut Entscheidungsvorlage für den Gemeinderat)
- Dreijährige Privilegierung von Selbstzahlern um 40% der Gebühren
Mit dieser Gebührensatzung bewegen sich die Kosten für Selbstzahler – auch für größere Familien – für bis zu drei Jahre generell unter der Mietobergrenze von Sozialwohnungen, während die vollen Gebühren dennoch einen relevanten Anteil der tatsächlichen Kosten einbringen. So gilt die Regel: Wer in einer eigenen Sozialwohnung nicht in den Leistungsbezug nach ALG2 fällt, der fällt als Selbstzahler in der Unterkunft auch nicht darunter.
Der Kostendeckungsgrad der Freiburger Satzung (zwischen 40 und 60 % – noch zu entscheiden) orientiert sich an anderen sozialen Leistungen der Kommune. Die genauen Werte sind der öffentlich zugänglichen Anlage zum Entwurf mit Rechenbeispielen zu entnehmen.
Besonders auffällig sind indes die völligen unterschiedlichen sprachlichen Betrachtungen in den beiden Entwürfen. Geht es hier in Stuttgart und dort in Freiburg tatsächlich um den gleichen Sachverhalt?
Die Antwort lautet: JA! Aber lesen Sie die beispielhaften Sprachregelungen der beiden Satzungen selbst:
Stuttgart | Freiburg |
Grundsätzliches zu den Gebühren: Bei den Benutzungsgebühren handelt es sich um Gebühren, deren Gegenleistung in der Nutzung einer Flüchtlingsunterkunft besteht. Die Gebührenkalkulation ermittelt die ansatzfähigen Kosten, die maximal auf die Benutzer umgelegt werden könnten. Hierbei müssen die Grundsätze der Kostendeckung und das Äquivalenzprinzip entsprechend den Vorgaben des Kommunalabgabengesetzes beachtet werden.
Das Kostendeckungsprinzip setzt eine Ermittlung der für den Betrieb der öffentlichen Einrichtungen entstehenden Kosten voraus. Zugleich wird durch dieses Prinzip eine Gebührenbemessung, welche die betriebswirtschaftlich anrechenbaren Kosten übersteigt, untersagt. Das Äquivalenzprinzip erfordert in Verbindung mit dem Gleichheitsgrundsatz, dass die Benutzungsgebühr im Allgemeinen nach dem Umfang der Nutzung bemessen wird. Die Höhe der Gebühr muss in einem stimmigen und angemessenen Verhältnis zur Leistung stehen. |
Grundsätzliches zur Zielsetzung (fehlt in Stuttgart): Hervorgehobene Bedeutung haben die sozialpolitischen Ziele: Durch eine Beschränkung der Kostendeckungsgrade soll zum einen die Gebührenhöhe auf ein sozial vertretbares Maß beschränkt werden. Zum anderen sollen durch Einführung von Privilegierungstatbeständen Anreize zur Arbeitsaufnahme und zu einer eigenverantwortlichen Lebensführung geschaffen werden.
Zu den Gebühren: In fiskalischer Hinsicht ist zu berücksichtigen, dass eine noch angemessene Kostendeckung erreicht werden sollte und dass die im Rahmen des Transferleistungsbezugs erfolgenden Bundeserstattungen nicht in unzweckmäßiger Weise verloren gehen. Schließlich sollen die Gebühren so nachvollziehbar und verständlich wie möglich sein. |
Gebührenerhebung: Die Gebühr pro Platz für die Unterbringung von Flüchtlingen ermittelt sich künftig anhand kalkulierter Kosten pro Wohn- und Schlaffläche in Quadratmetern (qm), differenziert nach Unterkünften, in denen eine Belegung mit einer durchschnittlichen Wohn- und Schlaffläche von mindestens 4,5 qm bzw. eine Belegung mit einer durchschnittlichen Wohn- und Schlaffläche von mindestens 7 qm zugrunde gelegt ist.
Eine Unterscheidung der Unterkünfte nach Wohnheim oder Wohnung entfällt. |
Gebührenerhebung: Die Verwaltung schlägt vor, für die Unterbringung in Wohnungen den hierfür üblichen Maßstab nach Wohnfläche (Preis/m2) zu ermitteln. Dies hat den Vorzug, dass die Gebührenstruktur dem freien Wohnungsmarkt ähnlicher ist als eine Pro-Kopf-Gebühr und die Untergebrachten so auf die erwünschte spätere Integration in private Mietverhältnisse besser hingeführt werden.
In Wohnheimen kann das Wohnen einer Familie in abgegrenzten Einheiten nur ausnahmsweise erfolgen. Gewöhnlich leben Personen in Wohnheimen jedoch in gemeinschaftlicher Unterbringung, d. h. Familien teilen sich mit Nichtfamilienmitgliedern Sanitär- und Küchenräume. Eine Ermittlung und Zuordnung von Flächen kommt hier nicht in Betracht. Es wird deshalb für die Unterbringung in Wohnheimen vorgeschlagen, die Gebühr auf der Grundlage der tatsächlich nutzenden Personen und der hierfür zur Verfügung gestellten Zimmeranzahl festzusetzen (Kopfpauschale). |
Recherchiert, berechnet und zusammengestellt von R. Otter (blog.freundeskreissued@gmail.com)
[1] überschlägige Rechnung: 6656 Geflüchtete Menschen in je 4,5 qm Unterkünften. Vereinfachung: 10% von ihnen bezahlen wegen der verschiedenen sozialen Komponenten nur 50% der Gebühren.
[2] Die ordentlichen Aufwendungen steigen proportional zur Fläche von 19.051.056 € um 55,55% auf 29.634.976,00 €. Diese Rechnung ist bereits sehr großzügig, da in der Realität nur ein teil der Aufwendungen steigen wird.
Kommentar verfassen